In einer aktuellen Entscheidung (14 Os 123/22b vom 24.1.2023) hat der Oberste Gerichtshof u.a. klargestellt, dass eine Erneuerung des Strafverfahrens (= Neudurchführung) nach § 363a StPO in Fällen, in denen bereits im noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, die Verfahrensgarantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Entscheidung in angemessene Frist geradezu konterkarieren würde. Vielmehr besteht der Ausgleich für die unangemessene Verfahrensdauer in diesem Stadium in einer raschen Prozessbeendigung unter Beachtung des Milderungsgrundes des § 34 Abs. 2 StGB.
34 Abs. 2 StGB besagt wiederum, dass das Überschreiten einer angemessenen Verfahrensdauer im Rahmen der Strafbemessung als Milderungsgrund zu berücksichtigen ist, wobei nach der Rechtsprechung des EGMR nur eine spür- und messbare Strafreduktion eine ausreichende Kompensation für die Grundrechtsverletzung darstellt. Im gegenständlichen Fall wurde eine solche Strafreduktion in Höhe von 3 Jahren gewährt: Das Oberlandesgericht erachtete fallkonkret also eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren für tat- und schuldangemessen (bei einem Strafrahmen von 1 bis 10 Jahren) und verhängte – in Anbetracht der Verfahrensdauer von 22 Jahren (!) – letztlich eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren.
Im Übrigen hat der Oberste Gerichtshof die vom Verurteilten angestrebte Erneuerung des Strafverfahrens auf Basis einer EGMR-Entscheidung (§ 363a StPO) bereits aus formalen Gründen verwehrt: Die in der Sache ergangene Entscheidung des EGMR (11.4.2017, Nr. 58049/11, Berger/Österreich) betraf die Dauer des Ermittlungsdauer von ca. 16 Jahren. Der EGMR stellte eine exzessive Verfahrensdauer insbesondere aufgrund der Zeitspanne zwischen Festnahme und Einbringung der Anklageschrift (mehr als 9 Jahre) und hinsichtlich der Verzögerungen bei der Bestellung eines geeigneten Sachverständigen (mehr als 5 Jahre) fest und sprach damit entsprechende Versäumnisse der verfahrensführenden Staatsanwaltschaft an. Der nach rechtskräftiger Verurteilung eingebrachte Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens bezog sich demgegenüber auf die erstinstanzliche Verurteilung durch das Strafgericht, die aber eben nicht Gegenstand des vorgenannten EGMR-Urteils war, womit der Verurteilte den gesetzlichen Bezugspunkt eines Antrags nach § 363a StPO verfehlt.
Die Entscheidung ist zwar – formal-juristisch als auch inhaltlich – nachvollziehbar, sie zeigt aber dennoch ein Problem: Überlange Ermittlungsverfahren sind keine Seltenheit und auch nach Anklageerhebung kann es noch zu unangemessenen Verzögerungen kommen. Wie sieht jedoch die „Kompensation für die Grundrechtsverletzung“ im Fall eines Freispruchs aus? Oder bei Verhängung der gesetzlichen Mindeststrafe bereits aus anderen Gründen? Kann eine überlange Verfahrensdauer irgendwann auch die Einstellung des Verfahrens erzwingen? Endgültige Antworten zu diesen und ähnlichen Fragen gibt es – zumindest in der Rechtsprechung – leider (noch) nicht.